
Nachgefragt: Interview mit Dr. Mirijam Hall von der Aids Hilfe Wien
Seit Ende 2023 ist die Wiener Gynäkologin Dr.in Mirijam Hall Vorsitzende der Aids Hilfe Wien. Wir haben sie im Mai zum Interview getroffen und mit ihr über Gesprächsbedarf zu sexueller Gesundheit, das geplante Zentrum für sexuelle Gesundheit der Aids HIlfe Wien und steigende STI-Zahlen gesprochen.
Eine Befragung der Aids Hilfe Wien hat ergeben, dass es großen Gesprächsbedarf zum Thema sexuelle Gesundheit gibt. Gibt es das entsprechende Angebot dazu?
Ja, die Umfrage hat klar gezeigt, dass wir einen ganz großen Bedarf haben, denn von den über 600 Personen, die wir befragt haben, haben über 80% gesagt, dass sie gerne mit ihren Ärztinnen und Ärzten über das Thema sexuelle Gesundheit sprechen würden. Allerdings finden nur 20% auch ein Angebot dazu, obwohl sie sogar explizit nach Menschen suchen, bei denen sie das Gefühl haben, sexuelle Gesundheit könnte als wichtiger Teilbereich der Gesundheit wahrgenommen werden.
Ich bin selbst Ärztin und muss ehrlicherweise sagen, dass das Thema schon im Studium viel zu wenig Platz hat. Es wird auch später in der ärztlichen Praxis sehr selten normal eingebaut. Dabei betrifft das Thema nicht nur Menschen, die mit sexuell übertragbaren Erkrankungen in Kontakt waren, sondern eigentlich alle irgendwann. Frauen in den Wechseljahren, die plötzlich ein Thema mit sexueller Lust haben, Paare mit Kinderwunsch, wo sich Sexualität stark verändern kann, das betrifft Menschen mit chronischen Erkrankungen, wo es zum Beispiel auch um Nebenwirkungen von Medikamenten geht. Auch, wenn man nicht krank ist, kann man im Bereich Sexualität Fragen oder Schwierigkeiten haben und man weiß jetzt auch immer mehr, dass diese biedere Annahme, dass es im Alter irgendwann „wurscht“ ist, überhaupt nicht stimmt. Auch in Altersheimen müssten wir uns besser mit dem Thema auseinandersetzen.
Welche Maßnahmen wären hier angebracht?
Die wichtigste Maßnahme wäre einfach mal darüber reden. Deshalb auch die Kampagne, die wir gemeinsam mit dem Dachverband machen: „Lust auf Reden“. Diese soll die Entstigmatisierung des Themas vorantreiben und die Schamgrenze ein bisschen verschieben. Alle Beteiligten im System sollen dafür sensibilisiert werden, dass es ok ist, darüber zu reden und dass man sich davor nicht fürchten muss. Gleichzeitig braucht es in der Ausbildung und im Gesundheitswesen insgesamt Platz dafür, damit das Thema auch wirklich zum Thema wird.
Das bedeutet auch, dass man Tools in die Hand bekommt als Arzt oder Ärztin, das in den normalen Alltag zu integrieren. Es sollte ein normaler Teil der Anamnese sein, genauso wie zu fragen, ob man Dauermedikation einnimmt oder Probleme mit Harn oder Stuhl hat. Damit macht man den Raum auf für das Gespräch. Daran scheitert es ganz oft, da Patient*innen von sich aus diese schambehafteten Fragen nicht stellen. Selbst die, die es tun, berichten dann von frustrierenden Erlebnissen, weil das Gegenüber plötzlich so überfordert war.
Gibt es auch kurzfristige Maßnahmen der Sensibilisierung, die von der Aids Hilfe Wien gesetzt werden?
Ja, im Rahmen dieser Kampagne „Lust auf Reden“ haben wir für unterschiedliche Berufsgruppen und Fachrichtungen Broschüren erstellt. Diese enthalten Leitfäden, wie man das Thema sexuelle Gesundheit normal in die Gesprächsführung einbauen kann. Wir bieten auch Fortbildungen an und das wird durchaus gut angenommen. Viele sind froh darüber, wenn sie Inspiration und Tipps bekommen, wie man das möglichst normal und ohne, dass es unangenehm ist, in ein Gespräch einbauen kann.
Die Aids Hilfe Wien baut derzeit ein Zentrum für sexuelle Gesundheit. Wann wird dieses eröffnen und welches Angebot findet man dort vor?
Die Aids Hilfe Wien wird zukünftig ein Ambulatorium betreiben, das sich dem Thema sexuelle Gesundheit widmet. Das Zentrum wird sich im Erdgeschoss und 1. Stock des Aids Hilfe Hauses befinden und 2026 eröffnen. Das Projekt ist ein Landeszielsteuerungsprojekt und wird vom Wiener Gesundheitsfonds und von der Sozialversicherung finanziert.
Unser Schwerpunkt von HIV/AIDS hat sich durch den medizinischen Fortschritt erweitert. Dadurch, dass HIV zum Glück nun viel besser behandelbar ist, haben sich unsere Aufgaben einfach verschoben. Wir haben uns in den letzten Jahren neben HIV/Aids auf sexuelle Gesundheit und sexuell übertragbare Erkrankungen im Allgemeinen konzentriert. Aus unserer Sicht gibt es da in Österreich eine relevante Versorgungslücke. Es braucht niederschwellige Testung, Beratung und Behandlung aus einer Hand und deshalb haben wir uns dazu entschieden, diesen Schritt zu gehen und konnten davon zum Glück auch die öffentliche Hand überzeugen.
Das heißt, Testung, Beratung und Behandlung werden an einem Ort möglich sein?
Ja, das ist die große Neuerung. Es wird ein one-stop-shop mit Testung, Beratung und Therapie in enger Kooperation mit den Angeboten des Vereins Aids Hilfe Wien. Das, was die Aidshilfe jetzt schon macht, bleibt bestehen und wird um die medizinische Komponente erweitert. Wir rechnen in Zukunft mit über 30.000 Patient*innen pro Jahr, das ist also ganz schön viel. Die Behandlung von Nicht-Versicherten sowie der kostenlose und anonyme HIV-Test werden natürlich auch weiterhin möglich sein.
Wir werden verschiedene Fachrichtungen dort vereinen: Allgemeinmedizin, aber auch Dermatologie und Gynäkologie, um auch das ganze Spektrum von STIs gut abdecken zu können. Sozialarbeiter*innen, psychologische Unterstützung, die ganze Anti-Diskriminierungsarbeit, Schulworkshops und die Community-Arbeit bleiben natürlich ebenfalls erhalten.
Wir schaffen in dem Zentrum auch eine Vollzeitstelle für wissenschaftliche Begleitung, weil die Datenqualität zum Thema sexuelle Gesundheit in Österreich leider eher schlecht ist.
In Österreich werden viele HIV-Tests durchgeführt, dennoch gibt es auch viele Menschen, die ihre Diagnose spät erhalten. Wie kommt das?
Es stimmt, dass wir in Österreich sehr viele HIV-Tests durchführen. Die hohe Anzahl liegt aber zum Teil auch an falsch indizierten Tests, zum Beispiel vor Operationen. Eigentlich ist das nicht mehr empfohlen, aber trotzdem ist es oft noch Usus.
Wir haben sicher ein Problem mit late presentern (Anm.: Menschen mit HIV, die ihre Diagnose erst spät erhalten), weil es da auch gar kein Bewusstsein dafür gibt, dass sie ein Risikoverhalten haben und auch das Gesundheitswesen oft nicht auf die Idee kommt, dass es HIV sein könnte. Late presenter sind zu einem größeren Teil weiße, heterosexuelle Männer über 50 Jahre.
Bei der Gesundenuntersuchung sexuelles Risikoverhalten und STIs mitzunehmen, wäre daher eine gute Idee. Das gilt aber ganz allgemein: Durch das Ansprechen von Themen sexueller Gesundheit kann sich sogar Therapieadhärenz verbessern, wenn zum Beispiel sexuelles Unwohlsein durch Nebenwirkungen eines Medikaments zustande kommt.
Die Entwicklung in diesem Bereich ist jedenfalls beunruhigend: Der letzte Verhütungsreport hat ergeben, dass über 40% der Jugendlichen überhaupt nicht verhüten! Die Zahl der Chlamydien steigt stark und das werden wir zum Beispiel bei Frauen in einigen Jahren deutlich sehen, wenn Fruchtbarkeitsprobleme auftreten durch solche Infektionen.
Es gibt schon einzelne Projekte, zum Beispiel zu kostenlosen Verhütungsmitteln, also es tut sich was. Das sind aber trotzdem noch baby steps und wir brauchen bei der sexuellen Gesundheit einen großen Schritt vorwärts.
Vielen Dank für das Gespräch!
über Mirijam hall
Dr.in Mirijam Hall ist als Gynäkologin in Wien tätig und ist als erste Frau Vorsitzende der Aids Hilfe Wien. Mirijam Hall engagiert sich außerdem in der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung (ÖGF) sowie bei der Kampagne #ausprinzip für den straffreien Schwangerschaftsabbruch.
Presseaussendung der Aids Hilfe Wien